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Judith Levine: Harmful to Minors
 

In Amerika ist es heutzutage fast unmöglich ein Buch zu veröffentlichen, welches aussagt, dass Kinder und Jugendliche Sex haben können und trotzdem sicher sind" Judith Levine.

Die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Buches schlägt hohe Wellen. Die Veröffentlichung von Harmful to Minors: The Perils of Protecting Children from Sex der Wissenschaftsjournalistin Judith Levine im Frühjahr 2002 erzeugte bei einigen Moralhütern der USA heftige Empörung. Die einseitige Kritik von konservativen Politikern und der religiösen Rechten bescherte dem Buch daraufhin aber erst die verdiente Aufmerksamkeit, und eine zweite Auflage von 10000 Exemplaren. Von der Presse wurde es durchweg positiv aufgenommen. Levine plädiert in ihrem Buch keineswegs für ausgelebte Pädophilie, was ihr immer wieder von unqualifizierten Kritikern vorgeworfen wurde, vielmehr plädiert sie für eine Entkrampfung und Entabuisierung des Themas.

Rezension ITP

Im Mittelpunkt von Levines Buch stehen die heute in der amerikanischen Gesellschaft aufwachsenden Kinder und Jugendlichen. Mit vielen Beispielen belegt die Autorin auf anschauliche Weise, wie diesen jungen Menschen, durch übertriebene und diffuse Angst vor kindlicher Sexualität und gerade durch den Wunsch sie zu beschützen, Schaden zugefügt wird.

Dabei betont Levine, dass Sexualität an sich für Kinder nicht schädlich ist sondern, genau wie für Erwachsene, eine Quelle von Wohlbefinden und Glück sein kann. Kinder werden sexuell aktiv aus den gleichen Gründen wie ihre Eltern: um Spaß zu haben. Pflicht von Eltern, Erziehern, Wissenschaftlern und dem Gesetzgeber ist Levine zufolge nicht nur der Schutz und die Aufklärung der Kinder, sondern auch, ihnen das Recht auf eine erfüllte Sexualität zu gewähren.

"Feministinnen haben deutlich gemacht, dass Frauen zwischen Zwang und Zustimmung unterscheiden können. Auch Frauen haben eigene sexuelle Bedürfnisse. Ähnliches kann man über die Sexualität von Jugendlichen sagen. Jugendliche sind sexuell und sie haben sexuelle Bedürfnisse. Als Erwachsene sind wir verpflichtet ihre sexuelle Autonomie zu respektieren." Levine belegt sehr schlüssig, wie in Amerika genau das Gegenteil passiert. Anstatt Kinder über ihren Körper und ihre Sexualität aufzuklären und so die Grundlagen für eine erfüllte und sichere Sexualität zu legen, wurde in den USA seit den 80er Jahren der gewohnte Aufklärungsunterricht an Schulen mehr und mehr durch sogenannte Enthaltsamkeitserziehung (abstinence education) ersetzt. Um staatliche Zuschüsse zu bekommen müssen Schulen ihre Lehrpläne den Vorgaben anpassen, denen zufolge die treue, monogame Ehe als einzige akzeptable Form menschlicher Sexualität akzeptabel ist. (S.92) Verhütungsmittel wie Kondome dürfen nur im Zusammenhang mit den Risiken ihre Benutzung erwähnt werden und die Lehrer müssen den Kindern erklären, dass außerehelicher Sex wahrscheinlich schlechte psychologische und gesundheitliche Folgen hat. Genau dieser Unterricht aber bringt Kinder und Jugendliche in Gefahren, angefangen von ungewollter Schwangerschaft bis hin zu tödlichen Krankheiten wie AIDS. Denn Untersuchungen haben ergeben, dass der Enthaltsamkeitsunterricht keinesfalls zu weniger sexueller Aktivität unter Jugendlichen führt sondern nur zu unsicheren Sexualpraktiken aufgrund mangelnder Aufklärung.

Bis 1999 haben über ein Drittel aller öffentlichen Schulbezirke den Aufklärungsunterricht durch Enthaltsamkeitserziehung ersetzt. Neben diesen ganz offensichtlichen Gefahren, die eine unrealistische Einstellung gegenüber kindlicher Sexualität mit sich bringt, geht Levine auf die psychologischen Folgen für die Kinder ein. Erziehungsprogramme beispielsweise, die Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen sollen, indem zwischen "guten" und "schlechten" Berührungen (good touch - bad touch) unterschieden wird, hinterlassen bei Kindern das Gefühl, dass jede Art von sexueller Berührung schlecht ist und gefährlich. Levine bedauert, dass es keine positive Sexualerziehung gibt, die den sexuellen Genuss als legitime Motivation für Sexualität von Kindern und Teenagern anerkennt. Wenn Kinder und Jugendliche sexuell aktiv werden, so wird meistens unterstellt, dass sie unter Gruppenzwang handelten oder von ihrem Partner überredet wurden. Diese Vorstellungen werden auch im Enthaltsamkeitsunterricht vermittelt, sie stellen damit eine Vorinterpretation für die von den Kindern und Jugendlichen tatsächlich gemachten Erfahrungen dar. Außerdem wird Jugendlichen der Zugang zu anderweitigen Informationen erschwert, z.B. durch Filtersoftware bei Schulcomputern mit Internetzugang.

Viele Sexualpraktiken, die ein geringes Risiko darstellen und für jungen Menschen einen vorsichtiges Experimentieren mit ihrer Sexualität ermöglichen könnten, werden im Unterricht nicht behandelt, z.B. gegenseitige Masturbation. Fehlende Informationen, sexfeindliche Einstellungen, Übertreibung der möglichen Gefahren und die Verneinung von sexueller Lust und sexuellem Genuss von jungen Menschen hat neben den oben genannten Gefahren eine weitere Folge: Kinder und Jungendliche fühlen sich nicht zufrieden mit ihrer Sexualität und empfinden Scham bezüglich ihre sexuellen Erfahrungen, welche häufig als unbefriedigend empfunden werden. Levine kritisiert die Situation in den USA, die allen Minderjährigen pauschal das Recht und die Fähigkeit abspricht, eigene Entscheidungen bezüglich ihrer Sexualität, egal mit welchem Partner, zu fällen. Das Thema der Pädophilie greift Levine nur mit einem Kapitel auf. Sie macht deutlich, dass nur sehr wenige Kinder Opfer von sexuell motivierten Gewalttaten werden. Taten, die selten von Pädophilen sondern eher von heterosexuellen Männern begangen werden. Pädophile, schreibt Levine, bringen sich selber auf das Level des Kindes und sexuelle Kontakte bestehen meistens aus Küssen, gegenseitiger Masturbation oder exhibitionistischen Handlungen.

Die Projektion der Gefahr auf fremde Männer, die Kinder entführen und umbringen bereitet Levine sorgen, da die meisten Missbrauchsfälle innerhalb von Familien stattfinden und die Kinder dort den Erwachsenen um so mehr hilflos ausgeliefert sind. Obwohl Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nur ein Randthema von Harmful to Minors darstellt haben sich die Medien in ihrer Berichterstattung auf diesen Aspekt konzentriert. Trotzdem hat das Buch eine gute Aufnahme gefunden. Große Medienorgane wie USA Today, CNN oder abc NEWS griffen die Themen aus Levines Buch in ihren Onlineausgaben auf. Dabei wurde auch die von Levine zitierte holländische Rechtssituation als Vergleichsmöglichkeit erwähnt, und einige Kritiker wurden bloßgestellt, da sie geäußert haben, dass sie das Buch gar nicht lesen bräuchten um den Inhalt zu kennen. pz


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