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Schwierigkeiten mit der Verhandlungsmoral
 

Die vom Autor zitierten Vignetten sind lediglich 5 Beispiele aus einer umfangreichen Fallsammlung, die Rind kürzlich zu einer Betrachtung über die postiven Effekte von sexuellen Erfahrungen Jugendlicher anregte.
Bruce Rind, Ph. D.

In seinem Aufsatz "Über die Tragik pädophiler Männer" argumentiert Schmidt, bei der Problematisierung von Sexualkontakten zwischen Erwachsenen und Kindern könne von der Frage möglicher Schäden und Verletzungen abgesehen werden. Das Problem sei das Verfehlen der "Verhandlungsmoral", weil sich hier zwei ungleiche Partner begegnen. In diesem Moralsystem, das auf einem linksliberal-feministischen Standpunkt beruht, der seit den 60er Jahren eine von religiösen Werten geprägte Moral abgelöst hat, erlaubt die Gleichheit zwischen den Partnern in sexuellen Beziehungen den "Respekt vor der Autonomie des anderen", ist allein diese Gleichheit imstande, eine Intimität zu erreichen, die "die Bedürfnisse und Grenzen des anderen" achtet.

Die Verfechter dieser Ansicht scheinen zu glauben, damit Grundlegendes über die menschliche Natur zum Ausdruck zu bringen. So behauptet Schmidt, Sex zwischen Erwachsenen und Kindern sei per se konfliktbehaftet allein wegen des "Machtgefälles", durch das "die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes" gefährdet sei bzw. "überfahren" zu werden drohe. Schmidt fragt, ob es überhaupt einvernemlichen Sex zwischen Erwachsenen und Kindern geben könne. Seine Antwort ist: nein, niemals. Sein Beweis ist der hypothetische Fall eines 10jährigen Jungen, für den eine Rückenmassage nur ein Akt freundlicher Hilfestellung ist, während der Mann, dessem Wunsch der Junge entgegenkommt, sie bereits als sexuelles Vorspiel deute. Schmidt argumentiert, beide spielten nicht "im gleichen Stück". Sie benützten verschiedene Szenarien, in denen der Mann Regie führen und täuschen müsse, um im Spiel zu bleiben. Die Disparität der Szenarien und die zugrundeliegende Täuschung, so Schmidt, demonstriere das Fehlen eines echten Konsenses - für diesen hypothetischen Fall und für alle realen Fälle ebenso.

Moralisten haben es leicht. Sie schmeicheln konventionellen Werten, leiten aus ihnen Tatsachen ab, bemühen ein hypothetisches Beispiel (oder ein sorgsam ausgewähltes reales) und behaupten Allgemeingültigkeit. So werden aus gesellschaftlich bedingten Moralvorstellungen unabänderliche Naturgesetze. Das ist das Problem mit der Schmidtschen These. Betrachten wir die Schwächen seiner Argumentation genauer. Zunächst polstert er, völlig unangemessen, sein moralisches System mit überheblicher und selbstgerechter Rhetorik, die eine kritische Überprüfung seiner Lehren und Behauptungen erschwert. Er beschreibt sein System als "aufgeklärt", "demokratisch" und "radikal pluralistisch", woraus folgt, daß ein Zweifler nur unvernünftig (unaufgeklärt, undemokratisch, ausgrenzend) sein kann. Zweitens kann sein hypothetischer Fall genauso wenig Allgemeingültigkeit beanspruchen, wie ein imaginierter cleverer Rotschopf als Beweis für die Cleverness aller Rotschöpfe herhalten kann.

Drittens, warum sollte man a priori unterstellen, daß ein Machtgefälle in sexuellen Beziehungen natürlicherweise inakzeptabel oder schädlich ist? Andere Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern sind von solchem Verdacht nicht betroffen: balgen, kitzeln, umarmen, betreuen, bestrafen oder predigen - auch diesen liegt ein deutliches Machtgefälle zugrunde. Niemand wendet dagegen ein, daß dabei die körperliche, taktile, emotionale, intellektuelle, verhaltensmäßige oder religiöse Selbstbestimmung des Kindes überwältigt würde. Darüber hinaus hatten sexuelle Beziehungen zwischen Männern und Jungen in zahlreichen Gesellschaften gerade aufgrund des Machtgefälles ihren Platz, da ihnen pädagogische und wachstumsfördernde Wirkungen unterstellt wurden (Ford & Beach 1951; Herdt 1987). Viele Primatenforscher haben soziale Schutz- und Fürsorgefunktionen in analogen Beziehungen bei Menschenaffen entdeckt (Ford & Beach 1951; Vasey 1995).

Kurz, die Annahme, ein sexuelles Machtgefälle sei von Natur aus problematisch, ist falsch. Die Annahme einer Überwältigung der sexuellen Selbstbestimmung verdient genauere Betrachtung. Finkelhor (1979, 1984) hat bereits vor vielen Jahren jene Positionen formuliert, die Schmidt derzeit vertritt. Aber die Schwäche seiner Argumentation ist immer noch lehrreich, sie verweist auf die Schwierigkeit, als Wissenschaftler und Moralist gleichzeitig in Erscheinung treten zu wollen. Wie Schmidt argumentiert auch Finkelhor, daß es keines Schadens bedürfe, um sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern als unmoralisch und inakzeptabel zu verwerfen. Sie seien unanhembar, fährt Finkelhor fort, aufgrund der Unfähigkeit des Kindes, in Handlungen einzuwilligen, die es nicht kennt und bei denen es nicht nein sagen kann. Wenn es wahr ist, beschwerte sich daraufhin ein Kritiker, daß Kinder über Sex nicht urteilen können, warum gestehen wir ihnen dann zu, sich über die widersprüchlichen Behauptungen religiöser Gruppen ein Urteil zu bilden (und etwa mit einem Erwachsenen übereinzukommen, lieber in diese, statt in jene Kirche zu gehen - oder in überhaupt keine)? Finkelhor antwortete, Sex sei etwas anderes, weil Sex mit höherer Wahrscheinlichkeit Schaden verursache. Seine Argumentation ist zirkulär – sie kehrt zur Schadensfrage zurück, obwohl diese als belanglos verworfen wurde.

Geradezu anstößig und mit einer wissenschaftlichen und philosophisch-logischen Herangehensweise unvereinbar ist Schmidts Bereitschaft, die Allgemeingültigkeit seiner These anhand eines hypothetischen Einzelfalls beweisen zu wollen. Zur Prüfung einer solchen These würde gehören zu fragen, ob es ihr widersprechende empirische Fälle gibt. Ich nenne solche Fälle. Sie sind einer Reihe von Interviews entnommen, die ich vor kurzem mit Personen geführt habe, die durch das öffentliche Aufsehen im Zusammenhang mit meinen Studien auf mich aufmerksam wurden und mit mir in Verbindung traten, um mir ihre Geschichten zu erzählen. Nachfolgend kommen fünf Männer zu Wort, die als Jungen um das zehnte Lebensjahr herum sexuelle Kontakte zu Männern unterhielten und die die Behauptung Schmidts, es könne niemals sexuelles Einverständnis zwischen präpubertären Kindern und Erwachsenen geben, zurückweisen. Es sind Beispiele aus Australien, Kanada, Frankreich, England und den USA. In den ersten drei Fällen handelt es sich um homosexuelle Männer, in den lezten beiden um heterosexuelle. Alle Namen sind geändert.

Fall 1

Nathan, ein 45jähriger Brite, entwickelte eine starke Neugier für männliche Geschlechtsorgane seit seinem 8. Lebensjahr. In diesem Alter versuchte er seine Neugier zu befriedigen, indem er nachts in das Schlafzimmer des Hausangestellten schlich und diesen heimlich unter der Bettdecke betastete. Mit 10 war aus Neugier sexuelle Erregbarkeit geworden. Erfolglos bot er sich Männern in Umkleideräumen zum Sex an. Mit 11 lernte er einen Nachbarn kennen und versuchte während vieler Besuche, ihn zum Sex zu bewegen - und hatte schließlich Erfolg. Bei wiederholten sexuellen Begegnungen in den folgenden zwei Jahren war Nathan, wie er selbst berichtet, stets der "Führende" - er kontrollierte das Geschehen. Als Junge unterhielt er sexuelle Beziehungen zu weiteren Männern, die er als sehr positiv empfand. Er meint, der Sex habe ihm Selbstvertrauen in sexuellen Belangen gegeben, als Jugendlicher habe er bereits genau gewußt, was er wollte, während seine Altersgenossen noch auf der Suche waren.

Fall 2

James, ein 23jähriger Kanadier, fühlte sich erstmals mit 6 Jahren von Männern sexuell erregt und hatte den ersten sexuellen Kontakt als 8jähriger mit einem gleichaltrigen Freund. Mit 11 befreundete er sich mit einem Mann aus der Nachbarschaft, dem er seine Bereitschaft zum Sex zu signalisieren versuchte. Dazu kam es schließlich, es machte ihn stolz und er fühlte sich dem Mann näher als zuvor. Drei Jahre lang besuchte er ihn regelmäßig, oft heimlich, um der Gefahr aus dem Wege zu gehen, daß seine Eltern den Kontakt unterbinden. Er sah die Beziehung sehr positiv, sagt, sie sei seiner Persönlichkeit förderlich gewesen (größeres Selbstvertrauen) und habe seinen Geschmack beeinflußt (z.B. sein Verständnis für Literatur).

Fall 3

Daniel, ein 33jähriger Franzose, pflegte seit seinem 6. Lebensjahr einen körperbetont-liebevollen Umgang mit seinem Vater. Mit 8 fühlte er sich sexuell zu ihm hingezogen. Mit 10 initiierte er sexuelle Spiele, in die der Vater einwilligte. Während der 4jährigen Dauer ihrer Beziehung war es stets Daniel, der zu sexuellen Handlungen ermunterte. Rückblickend schätzt er ihre Intimität sehr hoch und beschreibt die Beziehung als "wunderschön, rein, von Sicherheit, Vertrauen und Liebe getragen." Er sagt, sie habe ihm geholfen, sexuelles Selbstvertrauen aufzubauen.

Fall 4

Mit 8 Jahren suchte Dennis, ein 21jähriger Amerikaner, sexuellen Kontakt zu einem Freund der Familie, dem er ein Verhältnis zu seinem älteren Bruder unterstellte. Über zwei Jahre hatten beide miteinander Sex. In der Regel war er es, der die Begegnungen einleitete, er sagt, er sei immer in sexueller Bereitschaft gewesen. Er beschreibt die Beziehung als die positivste, die er jemals gehabt hat. Er sah sich im Vorteil, weil er glaubte, den Mann um den Finger wickeln zu können und dieser sich alle Mühe gab, seine Wünsche zu erfüllen. Er glaubt, seine sexuellen Beziehungen als Jugendlicher und Erwachsener verliefen reibungsloser wegen der Kompetenzen, die ihm die frühen Erfahrungen vermittelt hätten. Auf die Frage, wie ein Heterosexueller schwule Beziehungen genießen könne, antwortet er, daß es der Sex war, der ihn damals angezogen habe und weniger die Frauen oder Männer selbst.

Fall 5

John, ein 22jähriger Australier, war 8, als er seine sexuelle Erregung - er fühlte sich von Mädchen angezogen - erstmals bemerkte. Mit 9 fühlte er sich einsam und wurde von älteren Jungen gehänselt, da lernte er in seiner Nachbarschaft einen Jungen kennen, der gerade volljährig geworden war. Sie wurden schnell Freunde und John verbrachte viel Zeit in seiner Wohnung. Der junge Mann verführte und masturbierte ihn. Zuerst hatte John Angst, daß andere etwas mitbekommen würden, aber als sich seine Sorgen zerstreut hatten, fühlte er sich sehr behaglich beim Sex. Die Beziehung dauerte 3 Jahre. Er war stolz, mit einem älteren gesehen zu werden, sah ihn als Beschützer, die Nähe zu ihm beschreibt er als den Höhepunkt in seinem Leben. Auf die Frage, ob die Beziehung für ihn einvernehmlich gewesen sei, antwortet er: ja, er habe es gewollt, der Mann wollte es, er mochte den Mann, Einverständnis bekunden hieß: "Ja, tu es."

Diese Fälle widerlegen Schmidts Behauptungen, daß die Szenarien zwischen Erwachsenen und präpubertären Kindern immer differieren und daß der Erwachsene täuschen müsse, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. In jedem der Fälle wußte der Junge bereits vorab über Sex Bescheid; in vier Fällen initiierte er ihn. Die Beispiele widerlegen die Behauptung, daß das Machtgefälle die sexuelle Selbstbestimmung verletzen müsse: alle Betroffenen hatten das Gefühl, die sexuellen Handlungen kontrollieren zu können, und die Gewißheit, daß ihre Bedürfnisse und Wünsche beachtet und respektiert werden. Anstatt sie in ihrer Entwicklung zu beeinträchtigen, erfüllten die Beziehungen sogar pädagogische und andere entwicklungsfördernde Funktionen. In diesem Sinne sind sie vereinbar mit kultur- und gattungsübergreifenden Befunden, aus denen Forscher vergleichbare Funktionen ableiten. Übrigens zeigen diese Beispiele, wie fragwürdig die Annahme ist, daß Erwachsene immer die größere Macht hätten.

Mehr noch, dem anklagenden Wort eines Kindes - mit dem Potential, die Selbstbestimmung eines Erwachsenen über sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz komplett außer Kraft zu setzen - steht in unserer Gesellschaft zur Zeit nichts vergleichbares gegenüber; das verleiht dem Kind eine enorme Macht. Die ausgewählten Fälle haben sich selbst angeboten und müssen im Kontext einer ihnen extrem feindlich gesonnenen Kultur gesehen werden. Folglich mögen sie notgedrungen anomal erscheinen. Da aber Berichte aus Kulturen, die solche Beziehungen erlauben oder ermutigen (eher, als daß sie sie mit Schuld und zwanghafter sexueller Ignoranz belegen) auf positive Reaktionen schließen lassen (Williams 1996), können diese Beispiele nicht einfach als Zufälle abgetan werden. Kulturvergleichende Studien stützen eher die These, daß Jungen in der Vorpubertät regelmäßig "im selben Stück" wie die Männer spielen und ihnen somit auch angemessen antworten können. (Herdt 1987; Williams 1996). Schmidts moralisierende Unterstellung eines universellen und invarianten Nichtkonsenses geht an der Realität vobei.

Sicher fehlt bei vielen sexuellen Begegnungen zwischen 10jährigen und Erwachsenen in unserer Gesellschaft jeglicher Konsens. Der springende Punkt ist, daß es hier Unterschiede gibt (in einigen Fällen gibt es keinen Konsens, in anderen ist er vorhanden, und zwar in unterschiedlichen Graden und Ausprägungen) und diese wiederum sind von bestimmten Faktoren abhängig (individuelle Merkmale, kulturelle Einflüsse). Diese Schlußfolgerungen aus empirischen Befunden bleiben für das Paradigma der Konsensmoral unerreichbar, das ideologisch ist und an dem nur haften bleibt, was zur Begründung dessen, was sein soll, taugt, anstatt uns vor Augen zu führen, was ist. Als Motto dieses Moralsystems eignet sich: "Gleichheit macht frei" [im Orig. deutsch], weil es sexuelle Gleichheit als befreiend vergöttert und sexuelle Ungleichheit als versklavend dämonisiert. Obwohl es linksliberal ist, stimmt dieses Moralsystem mit dem der konservativen autoritären Persönlichkeit (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson & Sanford 1950) darin überein, daß es sein Hauptaugenmerk auf die Macht in persönlichen Beziehungen richtet, und andere Faktoren, die womöglich relevanter sind, außer Acht läßt. So hintertreibt die Verhandlungsmoral eine wissenschaftliche Erforschung von Sexualkontakten zwischen Erwachsenen und Kindern. Sie gleicht dem Bett des Prokrustes – sie zwingt alle Befunde und Interpretationen, sich den Konturen dieser Ideologie anzupassen.
B. Rind, Department of Psychology, Temple University, Philadelphia/ws

Literatur

* Adorno, T. Frenkel-Brunswik, E., Levinson, E., & Sanfort, R. N. (1950). The authoritarian personality. New York: Harper
* Finkelhor, D. (1979). What’s wrong with sex between adults and children? Ethics and the problem of sexual abuse. American Journal of Orthopsychiatry, 49, 692-697
* Finkelhor, D. (1984). Child sexual abuse: New theory and research. New York: Free Press.
* Ford, C. S., & Beach, F. A. (1951). Patterns of sexual behavior. New York: Harper & Row.
* Herdt, G. (1987). The Sambia: Ritual and gender in New Guinea. New York: Harcourt Brace Jovanovitch.
* Schmidt, G. (2002). The dilemma of the male pedophile. Archives of Sexual Behavior, 31, 473-477. Orig.: Über die Tragik pädophiler Männer. Zeitschrift für Sexualforschung, 12, 1999, 133-139. Stuttgart: Thieme Verlag
* Vasey, P. L. (1995). Homosexual behavior in primates: A review of evidence and theory. International Journal of Primatology, 16, 173-203
* Williams, W. L. (1996). Two-spirit persons: Gender nonconformity among Native American and Native Hawaiian youths. In R. C. Savin-Williams & K.
* M. Cohen (Eds.), The lives of lesbians, gays and bisexuals: Cildren to adults (pp. 416-435). Fort Worth, TX: Harcourt Brace College Publishers.


Quelle: Peer Commentaries on Green (2002) and Schmidt (2002)
Archives of Sexual Behavior, Vol. 31, No. 6, Dec 2002, pp. 479-503


Veröffentlicht auf ITP mit der freundlichen Genehmigung durch den Autor

Anmerkung

Die vom Autor zitierten Vignetten sind lediglich 5 Beispiele aus einer umfangreichen Fallsammlung, die Rind kürzlich zu einer Betrachtung über die postiven Effekte von sexuellen Erfahrungen Jugendlicher anregte, siehe dazu: Rind, B. (2003). Adolescent Sexual Experiences with Adults: Pathological or Functional? Journal of Psychology & Human Sexuality Vol. 15 (1), pp. 5-22


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